Gravitation statt Ziel – Systeme statt Perfektion
Was hat gute Leadership mit der Energieversorgung zu tun? Und mit rohen Eiern? Ein Pläydoyer von Prof. Bienert für systemisches Denken statt Perfektionsfalle!
Wie würden Sie ein rohes Ei im Dunkeln durch unwegsames Gelände tragen? Auf dem Handrücken balancierend oder locker in der Kuhle ihrer Handfläche?
Am tiefsten Punkt im Inneren oder oben auf der Außenseite einer umgedrehten Schale?
Was das mit Leadership zu tun hat?
Oder mit Management?
Oder mit unserer Gasversorgung?
Warum fürchten wir uns eigentlich vor Öl- und Gasknappheit, wenn wir doch über Jahrzehnte hinweg die Energieversorgung unseres Landes bis zur Perfektion optimiert haben?
Weil wir gewohnt sind, in Uhrwerken und singulären Optimierungszielen zu denken, nicht in mehrdimensionalen Netzen und Systemen. Weil wir beim Optimieren deshalb für einen spitz zugeschnitten und idealen Zustand planen, nicht aber für den Ausnahme-, geschweige denn den Krisenfall.
Der perfekte Gleichgang aller Komponenten ist das Idealbild eines Uhrwerks – der Chronograph ohne Abweichung, die Quarzuhr. Uhrwerke gehen nicht gerade gnädig mit Fehlern um: Wenn eine seiner Komponenten klemmt, steht das Uhrwerk, die Funktion bricht zusammen.
Das Dilemma ist: Solche Perfektion schafft zwar totale Qualität und Vorhersagbarkeit – es läuft sprichwörtlich „wie ein Uhrwerk“. Solche Perfektion schafft aber zugleich gefährliche Schwachstellen, führt zur Verwechslung von Gleichmäßigkeit und perfekter Konstruktion mit Sicherheit und Stabilität.
Ein gutes Flugzeug ist nicht eines, das in einem extrem schmalen Fenster von perfekten Piloten sehr sparsam, umweltfreundlich und sicher geflogen werden kann, aber schon bei kleinsten Abweichungen von diesem Idealzustand instabil wird und wie ein Stein vom Himmel fällt.
Gute Energiepolitik ist nicht eine, die unter idealen Bedingungen preisgünstig und umweltfreundlich funktioniert, wenn die Sonne scheint, der Wind bläst, alle Anwohner der Starkstromleitung zustimmen und Russland liefert. Eine gute Energieversorgung ist eine, die auch dann noch funktioniert, wenn einige dieser Voraussetzungen wegfallen.
Hand aufs Herz: Wie oft ist Ihnen dieses Perfektionsparadigma in Ihrer Karriere begegnet? Wie oft in den letzten Wochen? Wie oft versuchen Sie und Ihre Organisation den Bau eines Uhrwerks. Und wie oft waren Sie bisher mit solchen Versuchen erfolgreich?
Der bis Ultimo optimierte Lieferweg, der den Joghurt, seinen Becher, seinen Druck und die Folie obendrauf Tausende von Kilometern durch die Wallachei schickt: Klar, das spart ein paar Cent! Und auch noch Kapitalbindung und Lagerfläche. Während Deutschlands Warenvorrat täglich zwei Spuren jeder Autobahn mit LKWs füllt. Und immer mehr Parkplätze….
Wenn das bis auf den letzten Cent optimierte Projekt so perfekt ist, dass jeder „slack of variables“, jeder Spielraum im Netz von Menschen und Komponenten ausgereizt ist, dann schlägt jede Abweichung an der kleinsten Stelle blitzartig auf alle anderen Projektteile durch, mit meist bitteren Folgen, wie Kostenexplosionen und Verzögerungen. Trotzdem machen wie es beim nächsten Mal wieder genauso. Und wieder. Wir werden verdächtig, wenn wir Spielraum ins System bauen: Weil wir dann ja wohl selbst nicht an die Perfektion unseres eigenen Plans glauben…
Wer hört schon gern auf die lästigen Spielverderber, die mit furchterregender Treffsicherheit bereits anhand von Plan und Vertrag das Scheitern eines Vorhabens erkennen können, noch bevor dieses überhaupt angefangen hat? Nach mehr als 2 Mrd. begleitetem und sanierten Projektvolumen spreche ich leider aus Erfahrung.
Wir ringen auf breiter Front in Unternehmen und Gesellschaft mit dem spontanen Gefühl für Systeme. Während wir zugleich minütlich das Wort VUCA bemühen und alle unsere Teams „agil“ nennen. Doch ein Weltbild, das auf die Möglichkeit paradigmatischer Perfektion hofft, in dem sich Schwarz und Weiß, richtig und falsch immer eindeutig bestimmen lassen, wird auch dann an der Realität komplexer Systeme scheitern, wenn wir es auf bunte Kärtchen schreiben. Solange wir in einer Kette von Ursache und Wirkung denken, ist es völlig egal, ob wir deren Abfolge in einem GANTT Diagramm oder mittels KanBan visualisieren.
Die wichtigste Grundannahme für den Umgang mit Systemen aber ist, dass wir sie weder vollständig verstehen noch vollständig beeinflussen können. Allein diese Erkenntnis stellt für viele Menschen in Verantwortung ein echtes Problem dar.
Noch immer arbeiten wir uns an dem Versuch ab, anderen zu erklären, wie wir es geschafft haben, viele aufeinander einwirkende Faktoren in einer idealtypischen, ganz besonderen und einzigartigen Kombination einer endgültigen und perfekten Lösung zuzuführen. Und damit muss unsere Lösung schließlich „besser“ sein, als die der anderen.
Trotzdem ist der erfolgreiche Umgang mit Systemen keine Frage von Zufall oder Glück. Er erfordert aber ein anderes Verständnis von Realität als jenes, das bis heute mehrheitlich von Schulen, Hochschulen und Management Seminaren ausgespuckt wird.
Dieser Mangel lässt sich nur durch die Arbeit am Systembild beseitigen, nicht allein dadurch, dass wir unseren Führungskräften ständig bessere Kommunikations- und Arbeitsmethoden beibringen.
Weiß oder schwarz – auch für das Nichtoptimieren gibt es kein Optimum…
Wohlgemerkt: Optimieren ist wichtig! Wenn Dinge gut laufen, ist es am Ende nur logisch, Prozesse so zu gestalten, dass sie effizienter, kostengünstiger, reibungsloser werden. Das ist die Grundlage für Qualität und Effizienz.
Für gute Prozessgestaltung gilt aber: Reden wir nicht nur über den Idealfall, sondern den Ausnahmefall! Welche Kräfte bringen den Regelprozess, welche den Plan zu Fall? Wie erkennen wir sie? Welche Annahmen der Optimierung sind besonders gefährlich, weil sie das System bei geringen Abweichungen zum Stillstand bringen? Welche Annahmen sind womöglich völlig falsch und welche Folgen hätte dies? Was haben jene beizutragen, die den „Kampf“ um die beste Konstruktion oder den besten Plan verloren haben? Was tun wir schon im Regelfall zur Stabilisierung des Systems für eine potenzielle Ausnahme, die vielleicht niemals eintritt, auch wenn das zusätzlichen Aufwand erfordert?
Wir sollten daran denken: Je spitzer und schmaler Ziel und Korridor formuliert werden, desto leichter wird beides womöglich von der Realität zu Fall gebracht.
Bewusstsein und Bewahrung dieser Balance ist das, was gute Leadership ausmacht.
Leadership Gymkhana – Aufbrechen ins Unbekannte
Gute Leadership operiert jenseits der einfachen Antworten von (vermeintlich) Richtig und (vermeintlich) Falsch. Gute Leadership öffnet Räume für Aufbruch, auch ohne genau zu wissen, wo man am Ende ankommt. Gute Leadership ist die Haltung, mit Unsicherheit und womöglich erstmal falschen Zielen aufzubrechen, anstatt auf dem Weg zum Unbekannten präzise Ziele und centgenaue Pläne zu erwarten.
Denn mit dieser Erwartung wäre nicht nur Amerika nie entdeckt worden.
Leadership im systemischen Sinne ist „Leadership Gymkhana“: Ein Parcours am Steuer des komplexen Geräts „Unternehmen“ zur Schaffung einer Umgebung, in der die vielfachen Kräfte eines Systems sich untereinander so zusammensetzen, dass sie zu Stabilisierung des Systems unter allen Umständen führen, also bei Abweichung und Erschütterung immer wieder zum gewünschten Idealzustand zurückkehren.
So wie das Ei in der Schüssel.
Leadership Gymkhana fordert erfahrene Führungskräfte auf zum freudvollen und wirksamen Ringen mit „normal“ und „Krise, mit Kultur und Politik, Verhaltensmustern, komplexen Systemen und deren Verständnis. Mit erstaunlichen und ganz authentischen Folgen.
Mehr Informationen hier.