Die Macht des Handelns
Leadership – das heißt auch und vor allem: Handlungsfähig sein im Angesicht von Unsicherheit, Angst und Krieg. Wie reaktivieren wir diese Fähigkeit nach 75 Jahren Frieden und Sicherheit?
Wie erleben Sie die aktuellen Ereignisse? Hatten auch Sie im Hinblick auf ein absehbares Ende des Corona-Ausnahmezustands konkrete Maßnahmen für die Neuorientierung von Teams und Unternehmen geplant? Waren Sie schon in den Startlöchern für lange verschobene Entwicklungsprogramme, Produkt-Launches und Vertriebsinitiativen? Hatten Sie Ihre Leute endlich wieder planbar im Einsatz?
Und dann marschiert Russland in die Ukraine ein! Auf einmal sind wir konfrontiert mit Emotionen, denen die meisten von uns in ihrem Arbeitsleben noch nie begegnet sind: Unglauben, Angst, Wut, Unsicherheit, Resignation – sowohl bei uns selbst, als auch bei unseren Teams.
Wie sollen wir planen und führen, wenn irgendwie ständig erneut der Blitz einschlägt, und auch noch immer an derselben Stelle? Wenn die Hoffnung, wir könnten endlich wieder so weitermachen, wie bisher, endgültig in Scherben am Boden liegt? Wenn uns bewusst wird: Mit ein paar Metaplankärtchen, mit einer bunten Portion „New Work“, mit noch mehr Agilität, Diversität und Purpose wird es nicht getan sein.
Reality Check: Was uns gerade passiert, ist „normal“.
Epidemien, Kriege, Meteoriten, Blitzeinschläge, waren schon immer Teil unserer komplexen Welt: Als Menschheit mussten wir uns seit jeher mit mehr oder weniger wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Ereignissen auseinandersetzen, über deren Eintritt und Verlauf wir keinerlei Kontrolle hatten.
Wir sind es nur nicht mehr gewoht.
Über 75 Jahre Frieden in Europa sind ein Segen – bereits die dritte Generation von Leadern hier hat nie Krieg erleben müssen. Aber dieser Segen hat auch dazu geführt, dass viele nie den Umgang mit solchen Konflikten, Katastrophen und Unsicherheiten gelernt haben, die ausserhalb der von uns selbst gesetzten Spielregeln, Komfortzonen und Risikogrenzen stattfinden.
Doch genau das ist es, was echte Leader auszeichnet: Die Fähigkeit, im Angesicht von unkontrollierbaren Ereignissen Mut zu machen, konkreten Einfluss zu nehmen, Orientierung zu geben.
Qualitäten, wie wir sie aktuell beim ukrainischen Präsidenten erleben. Der authentisch ist und bleibt, nicht nur in Wunsch und Sprache, sondern in Wirklichkeit und Haltung. Nicht im Angesicht von Filzstift und Flipchart, sondern im Angesicht von Kugelhagel und Konflikt. Nachdem wir jahrelang fassungs- und tatenlos „Leadern“ wie Trump, Johnson oder Putin beim Überschreiten aller vermeintlich heiligen Regeln von Anstand, Ethik und Gesetz zugeschaut haben, erleben wir auf einmal völlig unerwartet die Wiederauferstehung authentischer Leadership. So schlimm dieser Krieg unbestreitbar ist: Der kollektive demokratische Widerstand gegen rohe Gewalt und brutale Aggression, den wir aktuell erleben – er sollte uns Mut machen.
Natürlich können wir nicht jeden Tag wie auf dem Sprung in einen Schützengraben leben, wir können nicht auf jede Katastrophe vorbereitet sein. Wir können „tägliches“ Leadership nicht allein aufgrund der Fähigkeit zum Umgang mit Krieg und Verwüstung definieren. Doch wir müssen auf die Welt reagieren können, müssen in der Lage sein, wenn nötig schnell und wirksam den Kontext zu wechseln.
Wenn uns die Ereignisse der letzten Jahre und Tage eines lehren, dann sicher dies: Wir haben vor dem Hintergrund der erzielten Stabilität die Instrumente für den Umgang mit den „Hard Facts“, dem dunklen und unangenehmen Teil der Realität im Keller immer weiter nach hinten geschoben, viele der dafür erforderlichen Fähigkeiten auf dem gedanklichen Sperrmüll entsorgt.
Zuerst Corona und jetzt der Ukrainekonflikt haben uns deutlich vor Augen geführt, wie wenig allein „Soft Factors“ von unbegrenztem Glück, Wachstum und Purpose für alle als brauchbarer Nachfolger einer glücklicherweise abgeschafften Normativität taugen. Missstände lautstark anzuprangern, schafft sie noch lange nicht aus der Welt. Wer lieber als Influencer Veränderung möglichst plakativ wünscht, anstatt als Leader im Angesicht unbequemer Realitäten zu entscheiden und zu handeln, ignoriert alle Lehren der Geschichte. Wenn wir uns den Herausforderungen der Wirklichkeit nicht stellen, sondern mit Pippi Langstrumpf „Ich male mir die Welt, so wie sie mir gefällt“ singen, dann beschwören wir die dunkle Seite einer falsch verstandenen Befreiung von faktischer Realität: Einer Befreiung, die den sozialen Prozess so polarisiert, dass wir hinter den krudesten Verschwörungstheorien, Shitstorms und Radikalisierungstendenzen nur allzu deutlich die Fratze von Gewalt und Bürgerkrieg, von Ausgrenzung und Faschismus erkennen können.
Putin führt uns auf brutale Weise vor Augen, dass Führung eben immer auch die Qualität ist, Werte und Richtung einer „besseren“ Welt auf Augenhöhe gegen jene verteidigen zu können, die ihre Talente und Ressourcen zu deren Verhinderung und Zerstörung nutzen.
Die fehlende Augenhöhe beim Versuch einer Lösung ist die ganze Tragik jener, die noch nicht begreifen können, dass einem gewaltbereiten und rücksichtslosen Despoten, den sein unbestrittenes Talent für Manipulation, Mord, Völkermord und Unterdrückung erfolgreich an die Macht geführt hat, nicht allein mit dem Konzept gewaltfreier Kommunikation zu begegnen ist. Putin braucht keinen Coach, er braucht einen vernünftigen und aufrechten, einen standfesten und besonnenen Gegner. Er braucht Leadership als Gegenüber.
Was heißt diese Erfahrung für unser tagtägliches Tun, für den Spiegel unserer direkten Umgebung?
Führung ist eben auch die unendlich komplexe Balance mit der vermeintlich dunklen, der gefährlichen, der einsamen und unangenehmen Seite dieser Rolle. Nur wer sich dieser Qualität stellt, wer sie bereit- und zugleich in Schach hält, wird am Ende dafür sorgen, dass sie immer seltener gebraucht wird. Das ist schwer. Es ist eine nahezu schizophrene Stufe der Entwicklung. Die Fähigkeit und der Wille zu kämpfen, Macht und Kraft einzusetzen, wenn nötig. Gepaart mit der uneingeschränkten Ehrlichkeit eines authentischen und wertvollen Ziels von Frieden und Wirksamkeit.
Es ist die Königsdisziplin der Führung.
Dass sie uns so schwerfällt, liegt auch daran, dass wir Führungsqualität nach dem Ende des Patriarchats niemals als eine positive Sammlung wertvoller Eigenschaften definiert haben, sondern allein als dessen Abwesenheit, als „Nicht-Patriarchat“.
Natürlich bedeutet dies jetzt nicht, Überreste überkommener Vorstellungen von Führungsqualität einfach aus dem Keller zu holen und das Patriarchat auf andere Weise wiederzubeleben.
Diese autoritären Relikte passen nicht mehr in eine moderne Führungsarchitektur. Zugleich dürfen wir aber das Vorhandensein normativer und „aggressiver“ Aspekte in der Herausforderung von Leadership nicht länger ignorieren.
Wir müssen die dunkle Seite von Leadership ergründen. Nicht etwa, um Darth Vader zu werden. Sondern, um ihn in Schach zu halten.